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«Kostenwahrheit allein wird uns nicht retten»

Der Transformationsforscher Markus Egermann untersucht, wie sich der Wandel in Gesellschaften vollzieht. Um zu einem nachhaltigen Ernährungssystem zu kommen, braucht es aus seiner Sicht das Engagement möglichst vieler Akteure – und Grundlagenforschung.

Das Interview ist erschienen in der foodaktuell-Ausgabe 9 | 2024.

Herr Egermann, Sie sind Transformationsforscher – was ist das?
Transformationsforscher versuchen zu verstehen, wie sich sozio-technische oder sozioökologische Systeme wandeln: Was sind die Treiber, was sind wichtige Momente und wie können wir systemischen Wandel beeinflussen? Einzelne Fächer wie zum Beispiel Geografie, Politikwissenschaft oder Soziologie sind allein nicht in der Lage, systemischen Wandel zu erklären, dafür gibt es eben die Transformationsforschung als Querschnittsdisziplin. Ich bin Geograf und Raumplaner, im Forschungsbereich, den ich leite, haben wir 25 bis 30 Personen aus 20 verschiedenen Diszipline.

Und mit Transformation der Systeme meinen Sie das, was umgangssprachlich als Energiewende, Mobilitätswende oder Ernährungswende bezeichnet wird?
Genau. Das Konzept der Transformation bezieht sich nicht per se auf Nachhaltigkeit, aber ja, hier geht es um den tiefgreifenden Wandel in Richtung Nachhaltigkeit, der sich über 20, 30 oder 50 Jahre hinweg vollziehen kann. Und letztlich geht es darum, auf diesem Planeten eine Umgebung zu erhalten, die es uns als Menschen auch in 200 oder 300 Jahren noch ermöglicht, weiterhin gut zu leben. Unser Forschungsziel ist es, Ideen zu entwickeln, wie man diesen Wandel beeinflussen kann. Steuern kann man ihn nicht, dazu ist das Ganze viel zu komplex, aber man kann vermutlich Dinge initiieren oder beschleunigen.

Gibt es aus Ihrer Sicht einen Konsens darüber, wie diese Transformation für den Ernährungsbereich aussehen müsste?
Es ist relativ gut bekannt, welches der Beitrag des Ernährungssystems zu der heutigen sozial-ökologischen Krise ist. Man weiss ungefähr, wie viel CO2 ausgestossen wird, welche Transporte zurückgelegt werden, wie viel Plastik produziert wird und wie viel davon in den Ozeanen landet, und so weiter. Banal gesagt dürfte ein nachhaltiges Ernährungssystem diese Dinge nicht mehr haben. Wie ein solches Ernährungssystem konkret aussieht und wie wir dahin kommen, kann Ihnen aber kein Forscher sagen. Die Konstellationen von Akteuren, von Technologien, von politischen Dynamiken und so weiter sind so komplex, dass man nicht einfach einen Plan machen und umsetzen kann. Das muss gesellschaftlich ausgehandelt und gemeinsam erprobt werden. Letzte Woche war ich hier in Dresden auf einer Party, da kamen die Eiswürfel in den Cocktails aus Spanien. So etwas ist natürlich Blödsinn, trotzdem scheint es sich an verschiedenen Orten betriebswirtschaftlich zu rechnen. Hier setzt die Transformationsforschung an: Wie kann man solche Dinge ändern? Es fehlt nicht am Wissen, manchmal auch nicht am Konsens. Kaum jemand wird es für sinnvoll erachten, Wasser in Spanien einzufrieren und nach Deutschland zu transportieren. Manchmal fehlt es an politischem Mut, oder Unternehmen befürchten, dass sie ihre Konkurrenzfähigkeit verlieren, oder Verbraucher tun sich schwer damit, Gewohnheiten zu ändern. Manchmal alles zusammen. All das muss man ernst nehmen. Und eine Möglichkeit, um da weiterzukommen, sind sogenannte Reallabore.

Was sind Reallabore?
Wir verstehen das als Lernraum, in dem man Dinge gemeinsam ausprobiert. Da können Transformationsexperimente durchgeführt werden und man lernt, wie Lösungen aussehen könnten, aber auch, was nicht funktioniert. Das wird dann wissenschaftlich angeleitet und gemeinsam ausgewertet, es wird geschaut, wo welche Effekte entstehen, wie die verschiedenen Menschen diese beurteilen und so weiter. Reallabore sind immer transdisziplinär, das heisst, es wird auch das Wissen von Unternehmen, von Politik und Verwaltung, von NGO, von der Zivilgesellschaft
und von den Bürgerinnen und Bürgern einbezogen.


Dr. Markus Egermann
Dr. Markus Egermann ist Transformationsforscher am Institut für Ökologische Raumentwicklung in Dresden und leitet dort den Forschungsbereich «Transformative Kapazitäten». Er hat an der TU-Dresden und der Università degli Studi di Pisa Geographie studiert und an der TU-Dortmund (Raumplanung) zur Fragen der Kooperation von Kommunen promoviert. Aspekte der Planung und nachhaltigen Entwicklung von Städten hat er unter anderem im gemeinsamen Studienprogramm zur Stadt- und Regionalentwicklung der TU-Dresden und der Ohio State University vertieft. Er lehrt an
der TU-Dresden. Markus Egermann ist Gutachter für die Europäische Kommission (Horizon Europe), die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die Volkswagenstiftung, die Mercator-Stiftung sowie für führende internationale Zeitschriften zur Transformationsforschung.


Können Sie ein konkretes Beispiel für ein Reallabor geben?
Wir hatten in Dresden im Rahmen des Projektes «Zukunftsstadt» ein Transformationsexperiment, wo es darum ging, mit weggeworfenen Lebensmitteln ein Restaurant zu betreiben, um mal zu schauen, was da passiert. Da lernt man dann viel über Hygienevorschriften, was da möglich ist und was nicht. Mit Blick auf ein nachhaltiges Ernährungssystem wäre meine Vision, in europäischen Städten – drei kleine, drei mittlere und drei grosse – während 20 Jahren in Reallaboren zu erproben, wie wir verschiedene Indikatoren wie Treibhausgase und Plastikverbrauch auf null bekommen. Mit stark regional geprägter Produktion und Konsum, mit ökologischen und sozialen Standards, vielleicht mit neuen Beziehungen zwischen Konsumenten und Produzenten, mit Prosumenten als Kombination der beiden, vielleicht mit gemeinschaftsgetragenen Unternehmensformen wie die der solidarischen Landwirtschaften. Wie das genau zu erreichen wäre, müssten die Akteure in diesen Städten dann selber herausfinden.

Nehmen wir an, man würde in Bern ein solches Reallabor starten: Wie geht man dann mit Akteuren um, die in Bern tätig sind, aber auch in der restlichen Schweiz, etwa die Detailhändler oder grosse Verarbeiter?
Man soll sie mit reinholen. Man muss sie fragen, ob sie bereit sind, in Bern zu prüfen, welche Rolle sie in einem nachhaltigen Ernährungssystem während 20 Jahren spielen können, in den anderen Regionen läuft das Geschäft dann erst mal weiter wie bisher. Es kann für ein Unternehmen auch interessant sein, neue Geschäftsmodelle aufzubauen, die vielleicht in 20 Jahren die passenden sind.

Bei der Finanzierung müsste wohl aber der Staat eine wichtige Rolle spielen. Kein Unternehmen wird sagen: Super, wir investieren da auch ein paar Dutzend Millionen, um diese Stadt umzukrempeln.
Ich würde das nicht pauschal auf die Politik schieben. Die Metropolregion Rhein-Neckar wurde massgeblich von BASF, die Metropolregion Nürnberg unter starker Mitwirkung von Siemens initiiert. Die Ernährung war in Nürnberg unter dem Label «Original – Regional» auch ein Teil davon. «Transformative Leadership» kann von Bürgermeistern, von Firmen, von der Wissenschaft oder auch zivilgesellschaftlichen Organisationen ausgehen, die den Wandel vorantreiben. Gleichzeitig muss man sagen: Wir sind als Gesellschaft sehr schlecht darin, soziale und kulture Innovationen und neue Denkweisen und Routinen aufzugreifen. Bei technologischen Innovationen hingegen funktioniert diese Integration sehr gut, mit Forschungs-, Start-up- und Wirtschaftsförderung.

Wie kann man das ändern?
Ich würde mir wünschen, dass Reallabore als soziale Forschungsinfrastruktur verstanden werden, die sich eine Gesellschaft leisten muss. In der Schweiz gibt es das CERN, da wird Grundlagenforschung betrieben, die jedes Jahr über eine Milliarde Euro kostet, in der Erwartung, dass dabei schon was Sinnvolles rauskommen wird. Bei den Reallaboren, in denen es um wichtige Fragen zur Nachhaltigkeit und letztlich ums Überleben der Menschheit geht, haben wir heute Budgets von drei Millionen Euro während drei Jahren. Da bräuchte es auch ein Umdenken in der Wissenschaftspolitik und Forschungsförderung.

Die Diskussionen über das Ernährungssystem drehen sich häufig um Kostenwahrheit, etwa Lenkungsabgaben für Pflanzenschutzmittel oder unterschiedliche Mehrwertsteuersätze für unterschiedlich nachhaltige Lebensmittel. Mit Kostenwahrheit kann man doch auch Nachhaltigkeit erreichen?
Kostenwahrheit einzuführen oder sich dem anzunähern, ist sicher nicht verkehrt. Das allein wird uns aber nicht retten. Dass man auf globalisierten Märkten so etwas multilateral noch durchsetzen kann, ist nicht sehr wahrscheinlich.

Viele Konsumentinnen, Landwirte, Verarbeiter und Händler wissen, was nachhaltiger wäre, was getan werden müsste, aber die Verantwortung wird herumgeschoben. Gibt es aus Ihrer Sicht einen oder mehrere Akteure, die vorangehen müssen?
Ich bin nicht sicher, ob es hilft, von mehr oder weniger Verantwortung zu sprechen. Jede und jeder von uns hat eine Verantwortung, die er oder sie im unmittelbaren Umfeld wahrnehmen kann. Es ist klar, dass ein Manager bei Nestlé einen grösseren Hebel hat als ein einzelner Verbraucher. Trotzdem braucht es alle Akteure. Wie gesagt: Transformative Leadership kann von überall her kommen. Soziale Bewegungen wie die Grünen oder die schwarze Bürgerrechtsbewegung kamen aus der Zivilgesellschaft, aus einer Minderheitenposition heraus und haben viel erreicht.

Welche Rolle kann die Technologie spielen bei der Transformation des Ernährungssystems?
Technologie kann natürlich ein Treiber von Transformationsprozessen sein. Das haben wir bei der Mikroelektronik gesehen. Aber beim Wandel hin zu Nachhaltigkeit wird Technologie stark überbewertet. Es gibt viele Rebound-Effekte: Wenn Geräte energieeffizienter werden, dann werden einfach mehr Geräte genutzt, sie werden häufiger und länger genutzt und der Energieverbrauch und Materialeinsatz bleibt hoch, um nur ein Beispiel zu nennen. Ausserdem braucht jede Technologie viele
Ressourcen, die auf einem begranzten Planeten nicht unendlich verfügbar sind. Wenn alle Menschen auf der Welt den durchschnittlichen Pro-Kopf-Vebrauch an Ressourcen eines Menschen in der Schweiz hätten, würde das heute schon nicht mehr reichen.

Mein Fazit aus diesem Gespräch ist ernüchternd: Die Technologie wird uns nicht retten, die grossen Firmen auch nicht, die Politik hat ihre Grenzen, es bleibt also nur, dass jede Einzelne und jeder Einzelne ins Handeln kommt. Dann wird es schwierig, rasch genug nachhaltig zu werden, um die Erde noch lebenswert zu erhalten.
Das wahrscheinlichere Szenario ist ganz nüchtern betrachtet, dass wir das jetzige System an die Wand fahren. Und dass dann etwas Neues entsteht – in welcher Form auch immer. Vergangene tiefgreifende
Transformationsprozesse waren nie «by design», sondern immer «by desaster» – nach Kriegen oder nach ökologischen Krisen. Trotzdem ist die Frage, welche Haltung wir dazu einnehmen. Wollen wir ein Bier aufmachen und dabei zusehen, wie die Welt untergeht? Die Menschheit hat schon viele Dinge vollbracht, die zunächst undenkbar waren. Die transformativen Kapazitäten für systemischen Wandel können wir aufbauen. Das Potenzial ist da. Wir brauchen nach meiner Überzeugung den Mut, es zu wagen und müssen dann, wie man im Fussball sagt, unser Herz auf dem Platz lassen. Und das können Menschen sehr gut, wenn sie sich einmal ernsthaft zu etwas entschlossen haben. Deshalb bleibe ich optimistisch.